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Das Überbevölkerungsargument lenkt vom Wesentlichen ab

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These: Das Grundproblem, das die Klimakrise verantwortet, ist das enorme Bevölkerungswachstum. Daraus abgeleitet wird die Ansicht, dass die Lösung der Klimakrise in politischen Maßnahmen liegt, die das Bevölkerungswachstum insbesondere da, wo es hoch ist, schnellstens reduzieren. Länder mit hohem Bevölkerungswachstum sind (aufgrund sozioökonomischer Bedingungen) häufig Entwicklungsländer.

Je mehr Menschen, desto mehr Ressourcenverbrauch, so der einfache und nachvollziehbare Gedanken. Doch ganz so einfach ist die Sachlage nicht. Schaut man genauer hin, eröffnet sich ein ganz anderes Bild.

Die Ressourcen des Planeten sind begrenzt, so auch das Land das uns nährt und die Menge an Treibhausgasen, die unsere Atmosphäre aufnehmen kann, bevor die 1.5 °C Grenze überschritten wird und die Klimakrise in eine globale Klimakatastrophe transformiert. Das ist die zweiteilige Problemstellung: Agrarflächen und Erderwärmung.

Im Folgenden stellen wir drei zentralen Fragen und versuchen diese zu beantworten. Die oben angeführte These wird damit widerlegt und die eigentlichen gesellschaftspolitischen Herausforderungen zurück ins Zentrum gerückt.

Frage 1: Wir sind fast 8 Milliarden Menschen. Werden wir immer mehr werden?
Antwort: Nein.

Fakten.
Das globale Bevölkerungswachstum nimmt bereits seit den späten 1960er Jahren ab. Die Vereinten Nationen prognostizieren, dass sich die Weltbevölkerung bis zum Ende des Jahrhunderts bei 10.4 Milliarden Menschen einpendeln wird und das Wachstum stagnieren wird. (Weiterführende Referenz: Our World in Data)

Frage 2: Können wir 10 Milliarden Menschen ernähren?
Antwort: Ja.

Fakten.
Aktuell leben fast 8 Milliarden Menschen auf der Erde. Für unsere Ernährung verbrauchen wir knapp die Hälfte, der landwirtschaftlich nutzbaren Oberfläche. Es ist davon auszugehen, dass diese allerdings zukünftig schrumpft, aufgrund der Erderwärmung. Zudem ist zu erwarten, dass wir bis zu 2 Milliarden mehr Menschen werden. Eine höhere Landnutzung für Nahrungsmittelanbau würde weitere Rodung von Wäldern zur Folge haben, was wiederum die Erderwärmung befeuern würde. Um einer Lösung dieser Probleme näher zu kommen, muss man sich folgende Fakten vergegenwärtigen.
Landnutzung ist ineffizient. Die Produktion tierischer Lebensmittel verbraucht 77% des Landes, allein für Rinderzucht sind es 60%. Diese liefern aber nur 37% der Proteine und 18% der Kalorien, die wir zu uns nehmen. (Nahrungsmittel im Vergleich: Landnutzung pro 1000 kCal, Landnutzung pro 100 g Proteine). Die Rinderzucht ist obendrein für den Großteil der Treibhausgasemissionen der Landwirtschaft verantwortlich. (Auch in Südtirol)

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Enorme Lebensmittelverschwendung. Zwischen 30% und 40% der Lebensmittel werden in Industrienationen entsorgt. Dabei wird nicht nur Land, sondern auch Wasser verschwendet und Treibhausgase werden unnötig emittiert. (Weiterführende Referenzen: Project Drawdown)

Eine deutliche Reduktion der Lebensmittelverschwendung und insbesondere eine Umstellung unserer Ernährungsweise auf weitestgehend pflanzenbasierte Ernährung, sind der richtige Ansatz, der es uns erlauben wird, alle Menschen zu ernähren und dabei sogar weniger Land zu verbrauchen, sowie weniger Treibhausgase zu emittieren.

Frage 3: Können wir 10 Milliarden Menschen ein gutes Leben garantieren, ohne eine Klimakatastrophe zu provozieren?
Antwort: wahrscheinlich ja, es hängt von Details ab und davon, was man als gutes Leben versteht.

Fakten.
Laut Oxfam sind allein die Emissionen der 10% weltweit reichsten Menschen genug, um noch binnen 2040 das Überschreiten der 1.5 °C Grenze zu verursachen, auch wenn die restlichen 90% der Weltbevölkerung deren Emissionen sofort auf 0 reduzieren würden. (Weiterführende Referenz: Oxfam Studie)
Treibhausgasemissionen steigen im Durchschnitt exponentiell mit dem Wohlstand an, es ist ein Problem des Lebensstils. (Die World Inequality Database erlaubt es, zu überprüfen, in welche Vermögensklasse man fällt)
Natürlich basieren diese Aussagen auf Durchschnittswerte und auch jemand der sehr vermögend ist, könnte prinzipiell ein überaus nachhaltiges Leben führen, diese Menschen sind allerdings ganz klar die Ausnahmen, wie Statistiken zeigen. Nicht nur im globalen Kontext emittieren wohlhabende Menschen sehr viel mehr als ärmere, auch innerhalb Europas sind die Emissionen äußerst ungleich verteilt, wie folgende Grafik einschlägig zeigt.

ZOE Institue for future-fit economies: Equitable 1.5-Degree Lifestyles

Es ist klar, dass die Verantwortung für Emissionen sowohl global als auch lokal sehr ungleich verteilt ist. Dies sollte in Maßnahmen zur Emissionsreduktion berücksichtigt werden, damit die Effizienz der Maßnahmen gesichert ist. Das beantwortet noch nicht die Frage, ob ein gutes Leben für 10 Milliarden Menschen möglich ist. Was gutes Leben bedeutet, bleibt zu definieren und die Wissenschaft geht hier erste Schritte, um zu eruieren, wie viel Energie und Ressourcen nötig sind, um einen Lebensstandard zu erhalten, der für alle Menschen neben einer Wohnung mit Heizung oder Klimaanlage und fließend Wasser auch den Zugang zu Bildung, Gesundheitswesen, Mobilität und Telekommunikation sichert.
Weiterführende Referenzen zum Thema: Decent Living Standards: Material Prerequisites for Human Wellbeing in Social Indicators Research; Providing decent living with minimum energy: A global scenario in Global Environmental Change; A Societal Transformation Scenario for Staying Below 1.5°C Heinrich Böll Stiftung.

Einige Studien suggerieren, dass ein suffizienter Lebensstandard für die gesamte zukünftige Weltbevölkerung von 10 Milliarden Menschen prinzipiell möglich wäre. Die Kernfrage ist eine Verteilungsfrage der Ressourcen und welches Maß an Luxus ökologisch tragbar ist. Es ist aber noch mehr Forschung nötig, um größere Gewissheit zu erlangen.

Dieser Blogeintrag von David Hofmann, basiert auf einen Artikel der ursprünglich für das Straßenmagazin Zebra geschrieben wurde und auf Salto.bz erschienen ist. Er wurde anhand neuerer Quellen aktualisiert und inhaltlich erweitert.